MAK zeigt "LILI REYNAUD-DEWAR. Rome, 1er et 2 novembre 1975"

MAK zeigt "LILI REYNAUD-DEWAR. Rome, 1er et 2 novembre 1975"

Lili Reynaud-Dewar, Filmstill aus dem Film Rome, 1er et 2 novembre 1975, 2019–2021

Mit performativen Szenarien kommentiert die französische Künstlerin Lili Reynaud-Dewar (* 1975) den privaten und öffentlichen Raum. Ihr Œuvre kreist um die Themen Individuum, Identität und Kollektiv, die sie in verschiedene Choreografien übersetzt. „Rome, 1er et 2 novembre 1975, die titelgebende Installation ihrer Ausstellung im MAK, bezieht sich auf die Ereignisse der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975, als der Dichter und experimentelle Filmemacher Pier Paolo Pasolini (1922–1975) nahe Rom unter mysteriösen Umständen ermordet wurde. Die mehrteilige Arbeit aus vier Videos und transkribierten Interviews erweitert die für Reynaud-Dewar charakteristische Erzählung zwischen Körper und Raum um die politische Dimension.

Rome, „1er et 2 novembre 1975 ist eine filmische Collage. Mit Freunden, Familie und ehemaligen Student*innen reinszeniert Lili Reynaud-Dewar Auszüge aus dem letzten Interview, das Pasolini am Tag seiner Ermordung gab, sowie aus dem Drehbuch eines Films von Abel Ferrara über den letzten Tag im Leben des Dichters. Durch dramaturgische und performative Eingriffe wird der Körper zu einer Projektionsfläche, die Sexualität, Gender und Gemeinschaft verhandelt. Die Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit sind in den Bewegungen der Darsteller*innen – Künstler*innen, Theoretiker*innen, Kurator*innen, Sammler*innen und Student*innen wie Verena Dengler, Diedrich Diederichsen, Marina Faust, Ramaya Tegegne oder Mireille Rias – fließend. Lili Reynaud-Dewar selbst schlüpft in die Rolle des Journalisten Furio Colombo.

Das Transkript des wenige Stunden vor Pasolinis Tod geführten Interviews vermittelt seine Überlegungen zu Faschismus, Bildung, Gewalt, Gesellschaft, Homosexualität und seine persönlichen Lebenserinnerungen.

Abel Ferraras Film über den letzten Tag im Leben von Pasolini („Pasolini", 2014) ist ein zentraler Baustein in der Arbeit von Lili Reynaud-Dewar. Ferrara blickt auf diesen besonderen Tag zurück: von der Arbeit Pasolinis an seinem filmischen Testament „Salò – Die 120 Tage von Sodom" über Interviews, seine Lektüre, Treffen mit Freund*innen, Gespräche mit seiner Mutter bis hin zur letzten Begegnung. Im Fokus stehen Pasolini und sein minderjähriger Geliebter Pino Pelosi, der als Mörder verurteilt wurde und später seine Version der Ereignisse änderte. Der Verdacht eines politisch motivierten Mordes an Pasolini hat sich nie bestätigt.

Das Moment der Wiederholung und Abstraktion lässt nachgespielte Ausschnitte aus dem Interview und aus Szenen nach Ferraras Film in einem anderen Licht erscheinen. Durch minimalistische Mittel – Leerstellen und Farbfelder – erweitert die Künstlerin die Schnittstelle zwischen Bild, Film, Sprache und Raum. Querverweise auf das Drehbuch, die Akteur*innen und den Raum vertiefen die fiktionale Dimension des Filmischen. Die Darsteller*innen rezitieren aus demselben Script die gleichen Sätze in verschiedenen Sprachen und zeigen individuelle Besonderheiten. Im Laufe des Films werden die Betrachter*innen für die verschiedenen Tonarten der Protagonist*innen sensibilisiert. Dieses Stilmittel der Wiederholung erzeugt Umdeutungen, Neuformulierungen und fluide Handlungsräume. Selektive Szenen und das gesprochene Wort in Interview, Film und Performance verschieben sich in der Wahrnehmung.

Es entspricht der Intention der Künstlerin, unterschiedliche Interpretationen des Drehbuchs zuzulassen. Sie verknüpft die Ästhetik der Sprache mit neuen Wahrnehmungserfahrungen im filmischen und analogen Raum. Broschüren, die auf dem Boden des Ausstellungsraums verstreut sind, enthalten biografische Interviews, die Lily Reynaud-Dewar mit allen Akteur*innen geführt hat. So entwickelt sie ein individuelles Porträt der Darsteller*innen und offenbart ein facettenreiches Szenario der Tragödie, ein zeitgenössisches Memento mori. In der Arbeit entspinnt sich eine rituelle Imagination. Gleichzeitig lotet die Künstlerin Potenziale des zeitgenössischen Diskurses zu Gender und Identität aus und regt die Betrachter*innen zur Reflexion an. Sie spannt einen Raum voller Narrationen, Aufnehmen und Abspielen werden zum Prinzip künstlerischer Produktion oder eines Mythos. 

Zu den Schauspieler*innen des Projekts „Rome, 1er et 2 novembre 1975" (2019–2021) zählen Mohamed Al Musibli, Bianca Benenti Oriol, Julie Boukobza, Verena Dengler, Diedrich Diederichsen, Fred Emprou, Marina Faust, Marwan Frickach, Ichiro Fukano, Maïa Izzo-Foulquier, Salvatore Lacagnina, Thomas Liu Le Lann, Pierre-Alexandre Mateos, Marlie Mul, Jimmy Nuttall, Koichiro Osaka, Naomi Quashie, Lili Reynaud-Dewar, Mireille Rias, Michele Robecchi, Kwon Sanghae, Bettina Steinbrügge, Ramaya Tegegne, Satoshi Ukaï und Frances Young. Weitere Mitwirkende sind Jacopo Adolini, Romain Bitton, Giordano Boetti, Eugenio Carrara, Pietrarco Franchetti, Tatiana Galdo, Sofia Gallarate, Maria Laura Gentile, Arturo Passacantando, Benedetta Pedone, Ryu San, Pablo Schellinger, Amano Takaaki, Kuwamoto Tomonari, Daniele Spadaro und Leonardo Varriale.

Rome, „1er et 2 novembre 1975" wurde von der Académie de France à Rome – Villa Médici mit Unterstützung von Le Fresnoy – Studio National des Arts Contemporains und der Fondation des Artistes produziert. Im Rahmen der Ausstellung im Centre Pompidou in Paris (6.10.2021–3.1.2022) gewann Lili Reynaud-Dewar mit der Arbeit den Prix Marcel Duchamp. 2022 kaufte die Österreichische Ludwig-Stiftung die Arbeit, die zu den Schlüsselwerken in Lili Reynaud-Dewars Œuvre zählt, als Dauerleihgabe für die MAK Sammlung Gegenwartskunst an.

Lili Reynaud-Dewar (* 1975) lebt und arbeitet in Grenoble, Frankreich. Seit 2010 lehrt sie an der Haute École d’Art et de Design in Genf, Schweiz. Sie zählt zu den bedeutendsten Künstler*innen ihrer Generation. 2023 sind weitere Einzelausstellungen im Palais de Tokyo, Paris, sowie im MAC – Musée d’Art Contemporain de Montréal, Kanada, geplant. 2015 nahm Reynaud-Dewar an der 56. Biennale di Venezia, All the World’s Futures, kuratiert von Okwui Enwezor, teil.

Quelle: MAK Presse und Öffentlichkeitsarbeit Judith Anna Schwarz-Jungmann (Leitung) Sandra Hell-Ghignone, Ulrike Sedlmayr / ots  //  Fotocredit: © Lili Reynaud-Dewar

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